Lazarus – Literarische Latenzen in romanischen Literaturen im 20. Jahrhundert
Im Johannes-Evangelium wird geschildert, wie Jesus den Tage zuvor verstorbenen Lazarus wiedererweckt (Joh 10-12). Die Faszination für den von den Toten Zurückgekehrten ist in der heutigen Populärkultur noch überaus präsent: In Science-Fiction-Filmen, Psychothrillern und Serien kommen Lazarus-Figuren besonders häufig vor (u.a. Outland – Planet der Verdammten, Black Snake Moan, Das Lazarus Projekt, Doctor Who, Supernatural, Interstellar, The Revenants). Auch in populärer Musik wird das Motiv oft behandelt (z.B. Procupine Tree: Lazarus, I Am Ghost: Our Friend Lazarus Sleeps, Nick Cave & The Bad Seeds: Dig, Lazarus, Dig!!!, The Boo Radleys: Lazarus, David Bowie: Lazarus). Selbst in den Naturwissenschaften kennt man sog. Lazarus-Effekte (Physik, Ökologie, Paläontologie).
Im DFG-Projekt („Lazarus – Literarische Latenzen in romanischen Literaturen des 20. Jahrhunderts“) werden historische Kristallisationspunkte untersucht, an denen sich die Lazarus-Figuren in ungewöhnlicher Weise häufen. Besonders in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg (1945-ca. 1960) finden sich in Frankreich, Spanien und Italien ungewöhnlich viele Lazarus-Figuren – in Gedichten, Romanen, Theaterstücken und literaturtheoretischen Texten. Die zentrale These des von Prof. Ursula Hennigfeld geleiteten Forschungsprojekts lautet, dass diese Lazarus-Figuren für gesellschaftlich latente Probleme stehen, die noch nicht öffentlich diskutiert und versprachlicht werden können. In Schwellenphasen wie z.B. nach dem Zweiten Weltkrieg werden mit Hilfe dieser Lazarus-Figuren traumatische Erfahrungen zum Ausdruck gebracht, die sich einer einfachen Versprachlichung entziehen, an die Grenzen des Vorstellbaren rühren und (zunächst) nur im Medium Literatur sagbar sind. Dazu gehört z.B. die Frage, wie Kriegsheimkehrer, KZ-Überlebende und Folteropfer wieder in die Gesellschaft integriert werden können. Auch Themen wie Kollaboration, Schuld und Verantwortung, Geschichtskonstruktionen und staatliche Gedächtnispolitik werden indirekt verhandelt. Gegen offizielle Siegerdiskurse und nationalstaatliche Mythenbildungen rücken die Lazarus-Texte die Opfer von Verfolgung, Terror, Krieg und Vernichtung in den Mittelpunkt, die im öffentlichen Diskurs der unmittelbaren Nachkriegsjahre eher verdrängt werden.
Projektlaufzeit: 01.04.2019-31.03.2022, Fördersumme: 304.575 €
Projektleitung: Prof. Dr. Ursula Hennigfeld (Romanistik), Mitarbeit: Dr. Julia Moldovan
1. Gefördert vom Strategischen Forschungsfonds (SFF) der Heinrich Heine Universität Düsseldorf (Laufzeit 01.04.2015-31.03.2017).
2. DFG-Sachbeihilfe "Lazarus - Literarische Latenzen in romanischen Literaturen des 20. Jahrhunderts" (Laufzeit: 01.04.2019-31.03.2022, Fördersumme 304.575€)
Monographie
Hennigfeld, Ursula (2022): Lazarus – Literarische Latenzen in romanischen Literaturen des 20. Jahrhunderts. Heidelberg (Winter).
Sammelband
Hennigfeld, Ursula (Hg.) (2016): Lazarus – Kulturgeschichte einer Metapher. Heidelberg (Winter).
Rezension
Schumacher, Meinolf (2017): „Ursula Hennigfeld (Hg.): Lazarus – Kulturgeschichte einer Metapher“, in: JLM. Nr. 9, S. 189-192.
Aufsätze
Hennigfeld, Ursula (2019): "I confini culturali e la 'natura' del sapere: I 'fenomeni di Lazzaro', in: Schafroth, Elmar/Conte, Domenico/Wirtz, Nora (Hg.): Natura e cultura nelle scienze dell'uomo. Natur und Kultur in den Geisteswissenschaften. Oberhausen (Athena), S. 261-272.
Hennigfeld, Ursula (2016): "Cet homme revenu de la nuit: Lazare et la fictionnalisation de transitions historiques", in: Bengsch, Daniel/Segler-Meßner, Silke (Hg.): Depuis les marges. Les années 1940-1960, une époque charnière. Berlin (Erich Schmidt), S. 130-148.
Hennigfeld, Ursula (2016): "Lazarus-Figuren in Dramen des 20. Jahrhunderts", in: dies. (Hg.): Lazarus – Kulturgeschichte einer Metapher. Heidelberg (Winter), S. 127-154.
Hennigfeld, Ursula (2014): "Le retour de Lazare: Le survivant chez Jean Cayrol", in: Gelz, Andreas/Bosshard, Marco Thomas (Hg.): Return Migration in Romance Cultures. Freiburg (Rombach), S. 127-142.
Hennigfeld, Ursula (2012): "'Le vrai problème n’est pas de raconter' – Jorge Semprún und das 20. Jahrhundert", in: Burns, Tom/Cornelsen, Élcio/Jäckel, Volker/Vieira, Luiz Gustavo (Hg.): Revisiting Twentieth-Century Wars. Stuttgart (ibidem), S. 213-235.
Hennigfeld, Ursula (2012): "Auferstehung und Leid. Lazarus-Figuren bei Vildrac, Obey, Cayrol, Wiesel und Malraux", in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 36, Heft 3/4. Heidelberg (Winter), S. 335-352.
Hennigfeld, Ursula (2011): "Nachwort", in: Cayrol, Jean: Im Bereich einer Nacht. Aus dem Französischen von Paul Celan. Freiburg (Schöffling), S. 237-255.
Interdisziplinäre Tagung Lazarus – Kulturgeschichte einer Metapher (5.-7.9.2013, Universität Osnabrück), Förderung durch die Fritz Thyssen Stiftung.
Lazarus in Literatur und Kultur des 20. Jahrhunderts (Katholische Hochschulgemeinde Düsseldorf, «Auf DU&DU», 02.11.2021)
Confini culturali e la « natura » del sapere : I «fenomeni di Lazzaro» (Neapel, Interdisziplinäres Partnerschaftskolloquium, 06.-09.11.2016)
Fisiología de la resurrección : Transgresiones y latencias literarias de Silva a Parra (Münster, XIX Congreso Internacional de la Asociación Internacional de Hispanistas, 14.07.2016)
Literarische Latenz und die Leere der Zukunft – Lazarus-Dramen im 20. Jahrhundert (Antrittsvorlesung HHU Düsseldorf, 23.06.2015)
Cet homme revenu de la nuit... Lazare et la fictionnalisation de transitions historiques (Frankoromanistenkongreß, Münster 27.09.2014)
Le retour de Lazare: Le survivant chez Jean Cayrol (Return Migration, Universität Freiburg, 17.-19.03.2011)
Rückkehr von den Toten: Lazarus-Figuren in Nachkriegsliteratur - ein DFG-Forschungsprojekt aus dem Institut für Romanistik
Lazarus von Bethanien ist eine biblische Figur, die laut Johannesevangelium vier Tage nach seiner Beisetzung durch Jesus von den Toten wieder auferweckt wurde. Faszinierend ist diese Figur bis heute vor allem deshalb, weil es sich bei dem Erweckungsvorgang eben nicht um eine Wiedergeburt, Geistererscheinung oder Zombie-Gestalt handelt, sondern um eine richtige Auferweckung. Univ.-Prof. Dr. Ursula Hennigfeld aus dem Institut für Romanistik untersucht in ihrem aktuellen DFG-Projekt "Lazarus - Literarische Latenzen in romanischen Literaturen des 20. Jahrhunderts" historische Kristallisationspunkte, an denen sich Lazarus-Figuren in ungewöhnlicher Weise in der Literatur häufen.
Lazarus - nach wie vor eine populäre Figur
Die Anziehungskraft des von den Toten Zurückgekehrten strahlt bis in die heutige Populärkultur aus und ist überaus präsent. Besonders häufig erscheint die Lazarus-Figur in Science-Fiction-Filmen, Psychothrillern und Serien, so zum Beispiel in den Filmen „Outland – Planet der Verdammten“ von 1981, „Das Lazarus Projekt“ aus dem Jahre 2008, in der ab dem Jahre 2005 entstandene Mysterie-Serie „Supernatural“ oder auch in der seit 1963 produzierten Langzeitserie „Dr. Who“. Auch innerhalb der populären Musik ist das Motiv Lazarus immer wieder ein Thema. Bands wie Procupine Tree und The Boo Radleys, aber auch David Bowie haben der Lazarus-Figur einen Titel gewidmet. Selbst in Physik, Ökologie und Paläontologie spricht man - mit jeweils unterschiedlichen fachlichen Bedeutungen, jedoch mit dem gemeinsamen Thema der Wiedererweckung - von sogenannten „Lazarus-Effekten“.
Zentrale Forschungsthese: Lazarus-Figuren stehen für gesellschaftlich latente und noch ungelöste Probleme
Nicht nur in der Populärkultur kommt Lazarus bis heute immer wieder vor, sondern auch in literarischen Texten. In dem aktuellen DFG-Projekt „Lazarus – Literarische Latenzen in romanischen Literaturen des 20. Jahrhunderts“ untersucht Ursula Hennigfeld historische Kristallisationspunkte, an denen sich die Lazarus-Figuren in ungewöhnlicher Weise innerhalb der spanischen, italienischen und französischen Literatur häufen. Insbesondere in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg von 1945 bis etwa 1960 finden sich in Frankreich, Spanien und Italien ungewöhnlich viele Lazarus-Figuren – in Gedichten, Romanen, Theaterstücken und literaturtheoretischen Texten. Die zentrale These des Forschungsprojekts lautet, dass diese Lazarus-Figuren für gesellschaftlich latente Probleme stehen, die noch nicht öffentlich diskutiert und versprachlicht werden können. Erforscht wird, wie in Schwellenphasen wie beispielsweise nach dem Zweiten Weltkrieg mit Hilfe dieser Lazarus-Figuren traumatische Erfahrungen zum Ausdruck gebracht werden, die sich einer einfachen Versprachlichung entziehen, an die Grenzen des Vorstellbaren rühren und (zunächst) nur im Medium Literatur sagbar sind. Dazu gehört auch die gesellschaftlich drängende Frage der unmittelbaren Nachkriegszeit, wie Kriegsheimkehrer, KZ-Überlebende und Folteropfer wieder in die Gesellschaft integriert werden können. Forschungsgegenstand sind auch die in fiktionaler Literatur indirekt verhandelten Themen wie Kollaboration, Schuld und Verantwortung, Geschichtskonstruktionen und staatliche Gedächtnispolitik. Im Zentrum der untersuchten Texte stehen Opfer von Verfolgung, Terror, Krieg und Vernichtung, die im öffentlichen Diskurs der unmittelbaren Nachkriegsjahre eher verdrängt werden und offiziellen Siegerdiskursen oder nationalstaatlichen Mythenbildungen widersprechen.
Fünf Fragen - Fünf Antworten
Im Gespräch: Univ.-Prof. Dr. Ursula Hennigfeld, Projektleiterin des DFG-Forschungsprojekts "Lazarus - Literarische Latenzen in romanischen Literaturen des 20. Jahrhunderts" und Leiterin des Spanien-Zentrums (SpaZ).
Was hat Sie zu Lazarus als literarischem Forschungsthema inspiriert?
Ich habe über den französischen Autor Jean Cayrol geforscht, der das KZ Mauthausen überlebt hat und 1950 einen Essay veröffentlicht, in dem er eine „lazarenische Literatur“ fordert. In seinem Umfeld habe ich immer mehr Lazarus-Figuren gefunden, in französischen Romanen, Theaterstücken, Lyrik und Literaturtheorie. Das hat mich fasziniert und war noch nicht erforscht – da wollte ich der Sache auf den Grund gehen.
Haben Sie bereits Erkenntnisse hinsichtlich unterschiedlicher Lazarus-Darstellungen innerhalb der französischen, italienischen und spanischen Literatur?
Ja, das ist sehr interessant. In Frankreich sind es vor allem Autoren, die Mitglied der Kommunistischen Partei waren, in der Résistance gekämpft haben, später dann gefoltert, verhaftet oder deportiert wurden. Hier sind alle Gattungen vertreten. In Spanien tauchen die Lazarus-Figuren vor allem in der Lyrik auf. Und zwar bei Autoren, die im Spanischen Bürgerkrieg oder während der Franco-Diktatur ins Exil geflohen sind. In Italien ist die Lage komplexer: Hier verwenden sowohl Gegner wie Sympathisanten des Faschismus die Lazarus-Figur. Gemeinsam ist allen drei Ländern, dass die Autoren nicht besonders religiös sind.
Innerhalb der Literatur taucht Lazarus insbesondere unmittelbar nach historischen Krisenphasen wie dem Zweiten Weltkrieg gehäuft auf. Haben Sie weitere historische Krisenzeiten ausmachen können, an deren Anschluss die Figur zunehmend eine Rolle spielt?
Ich habe auch nach dem Ersten Weltkrieg etliche Lazarus-Figuren gefunden. In Lateinamerika gibt es sehr spannende literarische Texte, die in den 1940er/1950er Jahren die Militärdiktaturen und die sogenannten desaparecidos antizipieren. Ein weiter zurückliegender Kristallisationspunkt scheint der Übergang von Mittelalter zu Früher Neuzeit zu sein – dazu möchte ich gerne demnächst ein neues Forschungsprojekt beantragen.
Wie erklären Sie sich die andauernde Popularität der Figur Lazarus innerhalb der Populärkultur?
Die Grenze zwischen Leben und Tod ist für Menschen sehr faszinierend und zugleich auch angsteinflößend – unabhängig davon, in welcher Zeit oder Kultur sie leben. Nie ist jemand aus dem Reich der Toten zurückgekehrt und hat davon erzählt – außer im Mythos. Das ist ein ideales Betätigungsfeld für die Fiktion. Meine These ist, dass populäre Lazarus-Figuren gesellschaftlich latente Ängste aufgreifen, z.B. die Angst vor massenhafter Zuwanderung wie in The Revenants oder die Angst vor der Zerstörung des Planeten wie in Interstellar.
Lazarus greift Ihrer These nach latente Probleme und Ängst auf. Sind Ihnen weitere- nicht biblische - Figuren bekannt, die eine derartige literarische Funktion einnehmen?
Man könnte z.B. an den antiken Orpheus denken. Sicher haben auch Werwölfe, Zombies, Gespenster, Vampire usw. mit kollektiven Urängsten zu tun – aber sie funktionieren anders als die Lazarus-Figuren.
Autorin: Andrea Rosicki, Online-Redaktion Philosophische Fakultät, HHU