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Hundert Jahre Berlanga - Der Chor der Armseligen

Luis García Berlanga (Valencia 1921 - Madrid 2010) gilt als einer der bedeutendsten und eigenartigsten Filmregisseure Spaniens. Seine Filmografie gehört in Spanien zur Allgemeinbildung, und das Wissen über die Eigenheiten seines Schaffens ist so weit verbreitet, dass die Real Academia de las Letras Españolas 2020 einstimmig das Adjektiv 'berlanguiano' in ihr renommiertes Wörterbuch aufgenommen hat. Juan Luis Cebrián, Mitgründer der einflussreichen Zeitung El País, hat erst kürzlich vorgeschlagen, folgende Definition für dieses Adjektiv ins Wörterbuch hinzuzufügen: "grotesk, aber real".

Für die Tatsache, dass Berlanga im Ausland keinen vergleichbaren Ruhm erlangt hat, gibt es mehrere mögliche Erklärungen, wie etwa den scheinbar volkstümlichen Charakter seiner Filme oder eine bewusste Orientierung an den konkreten Problemen der spanischen Gesellschaft -Berlanga gilt als ein außergewöhnlicher Chronist seines Landes. Auch die teilweise hartnäckige Distanzierung von allen politischen Bewegungen seiner Zeit -er selbst sieht sich als eine Art liberalen Anarchisten- haben womöglich zu dieser relativen internationalen Unkenntnis über Berlanga als Kultregisseur beigetragen.

Dennoch haben mehrere seiner Filme renommierte internationale Auszeichnungen und Nominierungen erhalten: Bienvenido Mr. Marshall gewann bei den Internationalen Filmfestspielen von Cannes 1953 den Preis für die beste Komödie sowie die lobende Erwähnung für sein Drehbuch, El verdugo erhielt 1963 den FIPRESCI-Preis bei den Filmfestspielen in Venedig, Plácido wurde 1961 als bester nicht-englischsprachiger Film für den Oscar nominiert. Die spanische Filmakademie ernannte Berlanga 1986 zum Ehrenpräsidenten und ein Jahr später erhielt er als erster Filmemacher einen Ehren-Goya für sein Lebenswerk.

Berlanga wurde 1921 als Kind einer angesehenen bürgerlichen Familie in Valencia geboren. Sein Großvater und sein Vater waren Politiker, die in der Zeit vor dem Bürgerkrieg auf unterschiedlichen Posten verschiedener liberaler, aber auch konservativer Regierungen agierten. Nach dem Bürgerkrieg wurde Berlangas Vater aufgrund seiner politischen Tätigkeit als Republikaner inhaftiert. Um seinen Vater von der Todstrafe zu retten, so sagte Berlanga, ließ er sich von der División Azul anwerben, einer freiwilligen Infanteriedivision, die in Russland unter dem Schirm der Wehrmacht kämpfte. Somit war Berlanga direkter Zeitzeuge des spanischen Bürgerkrieges - den er als "einen langen Urlaub" bezeichnet hat – des zweiten Weltkrieges und des langjährigen Franco-Regimes.

Seit seiner Jugend interessierte er sich für Literatur, Kino und Lyrik und verfasste nach dem Krieg regelmäßig Filmkritiken für unterschiedliche Zeitschriften. In Madrid bewarb er sich erfolgreich für den allerersten Studienjahrgang am frisch gegründeten Instituto de Investigaciones y Experiencias Cinematográficas, der ersten staatlichen Filmhochschule Spaniens. Dort traf er unter anderem Juan Antonio Bardem, der ebenfalls in dieser ersten Generation am Institut studierte - unter der Leitung renommierter Regisseure wie Carlos Serrano de Osma. Berlanga und Juan Antonio Bardem drehten 1951 gemeinsam ihren ersten Langfilm, Esa pareja feliz. Ebenfalls mit Bardem schrieb Berlanga 1953 das Drehbuch für den Erfolgsfilm Bienvenido Mr. Marshall. Der Film wurde mehrfach international ausgezeichnet und gewährte Berlanga die Möglichkeit, weitere renommierte europäische Filmemacher -insbesondere die italienischen Neorealisten - zu treffen und näher kennenzulernen. So schrieb er zum Beispiel 1954 zusammen mit Cesare Zavattini ein Drehbuch, das aber letztendlich doch nicht verfilmt werden konnte. Ein Teil seiner Filme wurde seitdem auch in Zusammenarbeit mit italienischen Produzenten und Darstellern gedreht.

Erst 1959 traf Berlanga aber die wichtigste Person seiner Karriere, die auch sein bester Freund und unverzichtbarer Lebensbegleiter werden würde: Rafael Azcona. Der äußerst produktive Drehbuchautor arbeitete mit Berlanga an mehr als zehn Filmen zusammen, von denen viele nicht nur in Spanien Lob und Ruhm ernteten. Azcona gelang es - nach den Worten Berlangas - das Werk des Regisseurs mit Kontinuität, Stabilität und Festigkeit auszustatten.

Die Filmografie Berlangas lässt auf zwei unterschiedliche Schaffensphasen deuten, die etwa am Ende der Franco-Diktatur und deren obligatorischer Zensur aneinandergrenzen. Wenn auch bei allen Filmen eine sehr zärtliche aber auch extrem groteske Darstellung der Gesellschaft als harmonischer Chor zu erkennen ist, die auf klare Züge des italienischen Neorealismus hinweist, werden die Rollen in den Filmen ab Ende der Siebziger Jahre eigenständiger, individueller und unvorhersehbarer. Auch die Themen ändern sich: Eine etwas krankhafte Macht des Erotismus wird in der zweiten Phase zum Paradigma, in Einklang mit vielen weiteren spanischen und auch europäischen Filmen dieser Zeit. In der vorliegenden Filmreihe werden hauptsächlich Filme der ersten Phase vorgeführt, wobei Tamaño Natural (1973) genau den Wendepunkt zur zweiten Phase des Regisseurs darstellt.

Durch langjährige Arbeit wurden alle Filme dieser Reihe - größtenteils zum ersten Mal für das deutschsprachige Publikum - vom Workshop Filmuntertitelung der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf unter Leitung von Miguel Herrero übersetzt und untertitelt. Der Workshop Filmuntertitelung findet jährlich im Bereich des Instituts für Romanistik der HHU statt und hat dank der Zusammenarbeit mit Studierenden der Romanistik über dreißig italienische, französische und spanische bislang hier unbekannte Klassiker ins Deutsche übersetzt.

Kuration und Text: Miguel Herrero

In Zusammenarbeit mit der Botschaft von Spanien, dem Filmpodium Zürich und dem Workshop Filmuntertitelung der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.